Vom Spielraum zum Verkehrsraum

Wie lernen Kinder das richtige Verhalten im Verkehr? „Durch Erfahrung und Übung“, sagt Verkehrspsychologe und Buchautor Siegbert Warwitz. Welche Modelle es dafür gibt und warum er den Begriff der Mobilitätserziehung ablehnt, erklärt er im Interview.

Zur Person

Prof. Dr. Siegbert Warwitz ist studierter Psychologe und Germanist. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Verkehrserziehung und der Wagnis/Risiko-Problematik. Er ist Autor des sportmotorischen Testverfahrens „Wiener Koordinationsparcours“, des „Fußgängerdiploms“, des „Karlruher-12-Schritte-Programms“ sowie einer didaktisch erneuerten Form des „Verkehrskaspers“.

Herr Professor, Ihr Buch „Verkehrserziehung vom Kinde aus“ ist inzwischen in der sechsten Auflage erschienen und gilt unter interessierten Verkehrserziehern als Standardwerk. Wie wichtig ist dieser Gedanke heute? Ist er auch bei den Kindern und Erziehern angekommen, muss er weiter vertreten werden?
Siegbert Warwitz: Er muss unbedingt vertreten werden. Die alte Verkehrserziehung wollte Kindern erwachsene Ansichten und Verhaltensformen überstülpen und ist daran gescheitert. Wir müssen das Kind bei seinen Vorerlebnissen und Erfahrungen abholen. Wir müssen vom Kind ausgehen, das ist der entscheidende Ansatzpunkt, wie ihn auch die Montessori-Pädagogik kennt.

Wie kann man sich „Verkehrserziehung vom Kinde aus“ in der Praxis vorstellen?
Das Kind entdeckt den Verkehr und entwickelt ein Gefühl für das Verkehren. Wir lassen Kinder selbst Verkehrszeichen und Verkehrsregeln entwickeln und vergleichen sie dann mit den Regeln der Erwachsenen. Wir machen Spielregeln zu Verkehrsregeln, Spielraum zu Verkehrsraum, Spielpartner zu Verkehrspartnern – und auch Spielstrafen zu Verkehrsstrafen.

Ist dieser Gedanke heute zur herrschenden Meinung geworden?
Ja, vor allem dort, wo man gelernt hat, pädagogisch-didaktisch vorzugehen, also im professionellen Erziehungsbereich. Das Buch ist in den Schulen weit verbreitet, ich bekomme auch viele Rückmeldungen aus Österreich. Aber im außerschulischen Bereich ist es noch nicht durchgedrungen. Da versteht man unter Verkehr vor allem Motorisierung und Mobilität. Das sind problematische Begriffe, weit weg vom kindlichen Denken.

Warum, heute ist doch viel von „Mobilitätserziehung“ die Rede. Ist das nicht eine neue, weiterentwickelte Verkehrserziehung?
Nein. Mobilitätserziehung ist kein kindgemäßer Begriff und außerdem nur ein kleiner Ausschnitt aus der Verkehrserziehung. Dabei geht es um den Umgang mit Fahrzeugen und um Bewegung in Verkehrsräumen. Mobilitätserziehung wurde von der Automobilindustrie geprägt und wird von ihr gefördert. Verkehrserziehung beinhaltet dagegen mehr: „miteinander umgehen“, „aufeinander achten“, „Kompromisse eingehen“, „miteinander kommunizieren und kooperieren“. Das ist die Ebene, die Kinder verstehen und in der sie leben. „Mobilitätsdenken“ ist ihnen fremd. Die begriffliche Verengung bringt substanziell nichts Neues. Sie fällt didaktisch und wissenschaftssystematisch zudem hinter den erreichten Stand der heutigen Verkehrspädagogik zurück.

Viele Kinder werden vom Verkehr nach Möglichkeit ferngehalten und mit dem Auto direkt vor die Schule gebracht. Ist das aus Elternsicht nicht die sicherste Methode, vor allem bei kleinen Kindern?
Der gefährlichste Platz für ein Kind im Verkehr ist das Auto der Eltern. Die Verletzungswahrscheinlichkeit ist größer als wenn das Kind zu Fuß unterwegs wäre, das ist belegt. Viele Eltern erkennen nicht, dass sie kontraproduktiv handeln, wenn sie ihre Kinder mit dem Auto zur Schule bringen oder abholen und damit die gefahrenträchtige „Schul-Rush-Hour“ produzieren und ihren Kindern lebenswichtige Erfahrungen vorenthalten.

Sollen Schulanfänger zu Fuß zur Schule gehen?
Ja, das Kind soll allein, eigenverantwortlich und eigeninitiativ zur Schule gehen. Das kann ein Schulanfänger nach einer sachgerechten Vorbereitung, das gehört zur Schulreife. Verkehren lernt man nur, indem man sich im Verkehr bewegt und Eigenerfahrungen macht. Ein Kind, das mit dem Auto zur Schule gefahren wird, lernt nichts und wird aus verkehrspädagogischer Sicht entmündigt. Es ist auch statistisch nachweisbar, dass Kinder, die mit dem Auto zur Schule gefahren werden, häufiger Unfallopfer sind als Kinder, die gelernt haben, selbstständig unterwegs zu sein.

In Ihrem Buch „Verkehrserziehung vom Kinde aus“ bringen sie viele, viele Spielideen für die Schule. Wollen Sie uns einige Verkehrsspiele nennen, die besonders zu empfehlen sind?
Nicht gerne. Das Addieren verschiedener einzelner Spiele ohne Zusammenhang gehört für mich auch zur „alten“ Verkehrserziehung. Verkehrserziehung muss systematisch aufgebaut werden. Eine Übung bereitet die nächste vor. Deshalb kann man sich nicht die „Rosinen“ aus vielen Übungen herauspicken. Wir haben aber einige Modelle entwickelt, an die sich Unterrichtende halten können und sollten.

Welche Methoden empfehlen Sie?
Wir haben vier Konzepte entwickelt: Unsere Hauptmethode ist das „Fußgängerdiplom“. Dabei lernen die Kinder alles, was ein Fußgänger können und wissen muss. Sie konstellieren schließlich auf dem Schulhof sogar einen kompletten Kreuzungsverkehr und schlüpfen in die Rollen verschiedener Verkehrsteilnehmer. Die Erstklässler sind die Fußgänger, aber auch der Schutzmann. Die Älteren kommen mit Fahrrädern, und die Kleineren leiten sie durch den Verkehr. Der ganze Kreuzungsverkehr wird von den Kindern selbstständig erarbeitet und praktiziert.
Zur Entwicklung von Problembewusstsein und Verkehrsintelligenz haben wir für die kleineren Kinder eine kreative Form des „Verkehrkasper“ und für die Älteren die Methode „Verkehrsfabel“ geschaffen. Besonders wichtig ist mir auch das Projekt „Schulwegspiel“, das ebenfalls „vom Kinde aus“ entwickelt wird. Dieses Brettspiel wird in der zweiten Klasse auf gemeinsamen Erkundungsgängen erarbeitet und hat den eigenen Schulweg zum Thema.

Zur Person

Prof. Dr. Siegbert Warwitz ist studierter Psychologe und Germanist. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Verkehrserziehung und der Wagnis/Risiko-Problematik. Er ist Autor des sportmotorischen Testverfahrens „Wiener Koordinationsparcours“, des „Fußgängerdiploms“, des „Karlruher-12-Schritte-Programms“ sowie einer didaktisch erneuerten Form des „Verkehrskaspers“.