„Man kann nicht früh genug beginnen!“

Wie Deutschland seine Kinder fit fürs Radfahren macht, erzählt uns Polizeihauptkommissar und Verkehrssicherheitsberater Michael Daubach im Interview.

Zur Person

Michael Daubach ist Polizeihauptkommissar und Verkehrssicherheitsberater in der Polizeiinspektion Ingelheim im deutschen Bundesland Rheinland Pfalz. Er ist als Ausbildner beim praktischen Teil der Radfahrausbildung mit deutschen Schulklassen im Einsatz.

Herr Daubach, wie läuft die Radfahrausbildung bei Kindern in Deutschland ab?
Michael Daubach: Die Radfahrausbildung ist in Deutschland ein Pflichtprogramm für alle Kinder in den dritten bzw. vierten Klassen. Das ist gesetzlich so verankert und da müssen alle Kinder daran teilnehmen. Die Umsetzung erarbeiten sich die Bundesländer in Eigenregie, wobei die Hauptthemen natürlich vorgegeben sind.

Welche Rolle spielt dabei die Schule?
Die Schulen bereiten den theoretischen Teil vor. Auch die theoretischen Prüfungen finden an den Schulen statt. Danach kommt der praktische Ausbildungsteil, der von uns, der Polizei, durchgeführt wird. Dieser setzt sich aus vier Übungseinheiten zu je eineinhalb Stunden zusammen. Die fünfte Einheit ist die praktische Prüfung.

Wie sieht die praktische Ausbildung konkret aus?
Mit der praktischen Ausbildung fängt man im Kleinen an: Da geht es zum Beispiel um die Sinnhaftigkeit des Fahrradhelms. Denn selbst bei den Kindern gibt es immer noch Helmmuffel. Ich demonstriere die Schutzwirkung mit rohen Eiern: Ein Ei wird in einem Minihelm aus einer bestimmten Höhe fallen gelassen – und bleibt heil. Das sorgt schon für einen gewissen Aha-Effekt bei den Kindern. 

Welche Themen stehen noch am Programm?
Wie schiebe ich das Rad sicher aus der Ausfahrt und auf die Fahrbahn, wie fahre ich richtig vom Fahrbahnrand an, Schulterblick, Handzeichen … Außerdem geht es um Sicherheitsabstände zu parkenden Fahrzeugen und vorausfahrenden Fahrzeugen. Weiter geht es mit dem richtigen Erkennen der Verkehrszeichen im Straßenverkehr und dem Vorbeifahren an einem Hindernis – zum Beispiel ein Kraftfahrzeug, bei dem plötzlich die Tür aufgerissen werden kann. Danach folgt die Regel „Rechts vor Links“ und dann geht es an die Königsdisziplin: das Linksabbiegen. Für Kinder ein sehr komplexer Vorgang: mit Handzeichen, Schulterblick, richtigem Einordnen, Gegenverkehr und so weiter. Das sind sehr viele Handlungen innerhalb kürzester Zeit. Da heißt es üben, üben, üben!

In welcher Schulstufe finden die praktischen Übungen statt?
Der Plan ist, dass man vor den Sommerferien in den dritten Klassen zwei praktische Übungseinheiten durchgeführt. Nach dem Sommerferien in den vierten Klassen die restlichen zwei Übungseinheiten. Und danach folgt die Prüfung und die Kinder erhalten den Fahrradpass.

Wo findet die praktische Ausbildung in der Regel statt?
Zum Beispiel auf einem Verkehrsübungsplatz. Ist kein Verkehrsübungsplatz vorhanden, gibt es die Möglichkeit einer mobilen Verkehrsschule. Da bauen die Kolleg*innen auf dem Schulhof oder einem öffentlichen Platz eine Übungsstrecke mit Verkehrszeichen auf. Dann gibt es noch die Möglichkeit, die Radfahrausbildung nach ein, zwei Übungseinheiten im geschützten Verkehr auch im realen Verkehr stattfinden zu lassen. 

Welche Unterschiede gibt es zwischen Deutschland und Österreich beim Thema Kinder und Radfahren?
In Österreich dürfen Kinder ohne Radfahrprüfung erst ab zwölf Jahren im Straßenverkehr mit dem Rad unterwegs sein. Diese Regelung gibt es in Deutschland nicht. In Deutschland gibt es eine Verpflichtung für Kinder bis zum achten Lebensjahr, den Gehsteig zu benutzen. Bis zum zehnten Geburtstag dürfen sie den Gehweg benutzen, wenn kein Radweg vorhanden ist. Ansonsten dürfen die Kinder auch ohne Fahrradpass alleine im Straßenverkehr mit dem Rad unterwegs sein, wobei sie dabei grundsätzlich der Aufsichtsplicht der Erziehungsberechtigten unterliegen.

Warum ist es so wichtig, dass möglichst früh mit der Radfahrausbildung begonnen wird?
Der Straßenverkehr ist einfach gefährlich. Alleine im Zeitraum 2018/2019 sind in Deutschland über 57.000 Kinder unter 15 Jahren im Straßenverkehr verunglückt. Davon waren 35 Prozent mit dem Fahrrad unterwegs. Darum beginnen wir schon in den Vorschulkindergärten mit der Verkehrserziehung. Da geht es darum, wie man richtig über die Straße geht, wie man sich am Zebrastreifen verhält usw. Man kann einfach nicht früh genug damit anfangen, die Kinder auf die Gefahren im Straßenverkehr aufmerksam zu machen. Kinder denken anders, sie haben ein völlig anderes Reaktionsvermögen und teilweise noch ein eingeschränktes Sichtfeld, das muss man alles berücksichtigen.

Wie hat sich Corona bei Ihnen auf das Angebot der Radfahrausbildung ausgewirkt?
Das Angebot musste komplett heruntergefahren werden. Somit gibt es einen ganzen Jahrgang an Schülern, die von uns nicht beschult werden konnten. Wir sind bis jetzt noch beim Nachholen, damit auch die Klassen, die im letzten Jahr die Ausbildung nicht machen konnten, drankommen. Es wird natürlich niemand ausgelassen.

Welcher Aspekt ist Ihnen persönlich bei der Radfahrausbildung sehr wichtig?
Ganz besonders wichtig ist mir, dass Kinder verstehen können, wie gefährlich sich bestimmte Verkehrssituationen entwickeln können. Deshalb schulen wir besonders das vorausschauende Fahren und Denken. Mir persönlich ist der tote Winkel bei Lkw ein großes Anliegen. Leider beklagen wir in Deutschland jedes Jahr viele Schwerstverletzte und Tote beim Rechtsabbiegen von LKW. Dazu kommen auch immer wieder Fragen von den Kindern selbst, wie sie sich dabei verhalten sollen. Das Thema ist leider nicht Bestandteil der Radfahrausbildung, aber wird von mir immer mitbehandelt. 

Welche Rückmeldungen erhalten Sie von den Kindern?
Es gibt eigentlich immer durchwegs positives Feedback! Die Kinder sind mit Leib und Seele dabei, sind begeistert und haben Spaß daran. Das ist es auch, was einen selbst immer wieder aufbaut und motiviert.

Welche Rolle spielt das Fahrrad in Ihrem persönlichen Leben?
Eine große Rolle! Ich bin sehr viel mit dem Rad unterwegs. Auch meine Kinder haben schon sehr früh mit dem Radfahren begonnen. Das Fahrrad ist einfach ein tolles Verkehrsmittel: Es ist umweltschonend, man tut etwas für die Gesundheit, man ist draußen in der freien Natur … das macht einfach Spaß.

Was würden Sie sich in Bezug auf das Radfahren bei jungen Menschen für die Zukunft wünschen?
Ich habe eigentlich einen ganz allgemeinen Wunsch: Ich würde mir wünschen, dass alle Verkehrsteilnehmer wesentlich mehr Rücksicht aufeinander und vor allem auf die schwächeren Verkehrsteilnehmer (Kinder, ältere Menschen, Fußgänger) nehmen. Damit könnten wir sicher einen großen Teil der Unfälle verhindern!

Zur Person

Michael Daubach ist Polizeihauptkommissar und Verkehrssicherheitsberater in der Polizeiinspektion Ingelheim im deutschen Bundesland Rheinland Pfalz. Er ist als Ausbildner beim praktischen Teil der Radfahrausbildung mit deutschen Schulklassen im Einsatz.